…und ein Kriminalfall bei seinem Urlaub auf der Insel Borkum
Vor einiger Zeit fanden die ehrenamtlichen Helfer im Dokumenten- und Fotoarchiv des Heimatvereins bei der Aufarbeitung und Neueinsortierung ein handschriftliches Blatt mit der gut lesbaren Überschrift „ von Bodelschwingh auf Borkum 1876“; der Rest war in Sütterlin geschrieben und etwas schwer zu entziffern. Pastor Carsten Wittwer von der evangelisch-reformierten Inselgemeinde half weiter und verwies auf ein Buch, geschrieben von dem Sohn Gustav von Bodelschwingh, der damit das komplexe Lebensbild seines Vaters zeichnete. In welchem Haus von Bodelschwingh damals auf Borkum gewohnt hat, konnte (noch) nicht ermittelt werden, aber was er auf der Insel erlebte und wie seine Einstellung zu den „Badeurlaubern“ war, ist ausführlich festgehalten.
Am 6. März 1831 wurde Friedrich von Bodelschwingh als sechstes Kind des preußischen Ministers Ernst von Bodelschwingh und dessen Frau Charlotte in Tecklenburg geboren. Die Familie entstammte einem alten westfälischen Adelsgeschlecht. Im Kindesalter war er Spielgefährte des preußischen Kronprinzen und späteren Kaisers Friedrich III. Er erhielt eine landwirtschaftliche Ausbildung und war danach Gutsverwalter in Gramenz/Pommern, heute Polen.
Die Konfrontation mit dem Elend der Landarbeiter beschäftigte Bodelschwingh sehr stark. Er begann sein Studium der Theologie in Basel, später in Erlangen und Berlin. Sechs Jahre wirkte er in Paris, zunächst als Hilfsprediger, dann als Pfarrer. Im April 1861 heiratete er seine Kusine Ida. In den folgenden Jahren wurden die Kinder Ernst, Elisabeth, Friedrich und Karl geboren. 1864 kehrte die Familie nach Deutschland zurück und Bodelschwingh übernahm eine Pfarrstelle in Dellwig, Kreis Unna. Im Januar 1869 ein schwerer Schicksalsschlag: die vier Kinder starben binnen vierzehn Tagen an Diphtherie. In den folgenden Jahren erblickten die Kinder Wilhelm, Gustav, Frieda und Friedrich das Licht der Welt. Zu Beginn des Jahres 1872 wurde Friedrich von Bodelschwingh engagierter Leiter der „Rheinisch-westfälischen Anstalt für Epileptische“ bei Bielefeld, die wenig später unter dem Namen „Bethel“ (hebräisch: Haus Gottes) berühmt werden sollte.
Es entstand eine kirchlich und kommunal selbstständige Siedlung mit über 4.000 Kranken und Gesunden, die wie in einer großen Familie zusammenleben und gemeinsam arbeiten. Die „Stadt der Barmherzigkeit“ besaß eigene Handwerksbetriebe, Mitarbeiterwohnhäuser, kommunale Einrichtungen, kirchliche Versammlungsräume, Schulen und Ausbildungsstätten für angehende Pastoren. Am 2. April 1910 starb Friedrich von Bodelschwingh in Bethel. Sein Sohn Friedrich führte das Lebenswerk seines Vaters als Leiter der Bodelschwinghschen Anstalten weiter. Auch heute noch steht die fachliche Hilfe für kranke und behinderte sowie sozial benachteiligte Menschen im Mittelpunkt der Stiftungen.
Der Sohn Gustav erinnerte sich:
„Vater litt von Zeit zu Zeit an einer Schwäche des Halses und der Brust, die ihm das Atmen und Sprechen erschwerte. Zur Linderung dieses Gebrechens ging er immer wieder ans Meer. Es war im Jahre 1876, daß er mit unserer Mutter zusammen zum ersten Male an die See reiste, und zwar auf die Insel Borkum. Der Herbst war hereingebrochen, und die meisten Gäste waren schon abgereist. So verlebten die Eltern dort ganz besonders glückliche, stille Wochen, von denen sie uns oft erzählten.
Kurz vor ihrer Abreise aber durcheilte eines Morgens eine Schreckensnachricht die Insel. Man hatte in den Dünen die Leiche eines jungen Mannes mit zertrümmertem Schädel gefunden und nicht weit davon einen Strandhammer, womit augenscheinlich die Tat ausgeführt worden war. Es handelte sich um einen jungen Landwirt vom Festland, der als Badegast auf die Insel gekommen war. Man hatte ihn noch am Abend vorher bis spät in die Nacht hinein mit einem andern Badegast im Wirtshause beim Kartenspiel gesehen. Es konnte kaum anders sein, als daß dieser andere der Mörder war. Sofort wurden alle Boote mit Wachtposten besetzt, damit keiner die Insel verlassen könnte. Vater aber und sein Vetter, der Landdrost von Quadt, halfen bei der Suche nach dem Täter. Bald war denn auch der mutmaßliche Mörder entdeckt, der so lange am Leugnen blieb, bis man in seiner Wohnung die Geldbörse des Ermordeten fand und bis die am Strand und in den Dünen gefundenen Fußspuren zeigten, daß sie genau mit dem Maß seiner Stiefel übereinstimmten. Da gestand er seine Tat ein. Während des Kartenspiels hatte ihm der Ermordete erzählt, daß er der Sicherheit wegen all sein Geld stets bei sich trüge und daß er auch jetzt seine ganze Barschaft in der Höhe von 80 Mark in der Tasche habe. Das hatte den Mörder gereizt. Er lockte sein Opfer an den Meeresstrand, ergriff dort einen großen Holzhammer, der den Strandarbeitern gedient hatte, um Holzpflöcke zur Herstellung eines Schutzdammes in den Sand zu treiben, und jagte hinter seinem Opfer her. Man konnte die Spur der beiden im Sande verfolgen. Der Ermordete war geradeswegs auf den Leuchtturm zugeeilt, dessen Licht zum Strand herüberleuchtete. Der Mörder aber war ihm mit langen Sätzen nachgejagt, war ihm bei einem Sandberge, den er von der kürzeren Seite umkreist hatte, zuvorgekommen und hatte ihm so den tödlichen Streich versetzt. Vater hatte niemals Freude an schauerlichen Geschichten. Aber diese Geschichte erzählte er immer wieder.“
Bodelschwingh kam nie wieder nach Borkum zurück, sondern besuchte dann die Nachbarinsel Norderney. Nach dem zweiten Aufenthalt erklärte er: ich gehe auch dahin nie wieder! Er habe gesehen,wie die „eingeborene“ Bevölkerung durch die Badegäste ihres Sonntags beraubt wurden. Es sei ihm fast unerträglich gewesen, in der Kirche zu sitzen und die von den „Ortseingesessenen“ verlassenen Bänke zu sehen. Mit den Kindern suchte die Familie dann die ostfriesischen Inseln Langeoog und Wangerooge auf. „In solchen Ferienzeiten taten dann die Eltern, was sie nur konnten, um Badegästen und Eingesessenen mit gutem Beispiel voranzugehen. Sie standen Sonntags früher auf als alltags und machten selbst ihre Betten. Dann wurden wir Kinder geweckt, damit wir das gleiche täten und so das Frühstück nicht so lang in den Sonntag hineingezogen würde. Ein Seebad nahm Vater nie am Sonntag, um dem Badewärter Arbeit zu ersparen, und mit ganzer Energie drang er darauf, daß Sonntags nur von einem statt von zwei Tellern gegessen wurde, damit den Mädchen die Arbeit des Spülens erleichtert würde. So fiel die Bitte, die im Sommer 1888 von der Insel Amrum herübertönte, bei Vater auf wohl vorbereiteten Boden. Es kam nämlich von dort ein Brief des Inselpastors Tamsen, der Vater einlud, nach Amrum zu kommen und zu helfen, daß die Insel gegen die drohende Welle des modernen Badelebens geschützt würde.“
Jan Schneeberg