Ein Brief mit der „untertänigsten Bitte der Gemeindeglieder zu Borkum um Beibehaltung der holländischen Predigten“
von Jan Schneeberg
Hinter der wuchtigen Eingangstür des Alten Turmes auf der Nordseeinsel Borkum, instand gesetzt und umsorgt vom Heimatverein, ist im Erdgeschoss eine kleine, aber feine Ausstellung zu sehen, die sich intensiv mit den Ergebnissen der Grabungen vor einigen Jahren durch den Archäologen Michael Krecher auf dem historischen Friedhof der evangelisch-reformierten Gemeinde beschäftigt. Der oberere Teil des ehemaligen Seezeichens ist wegen dringender Sanierungs- und Sicherheitsarbeiten zur Zeit für den Besucher nicht zugänglich, aber etwas weiter östlich ist das sehenswerte und geschichtsträchtige Museum „Dykhus“ zu finden.
Gegenüber in nördlicher Richtung erblickt der interessierte Gast – neben dem in der Straße eingelassenen Wappen der Insel und einem ehemaligen Ausflugsboot, auch „Lustkutter“ genannt – ein kleines zweigeteiltes Haus, wo sich im 19. Jahrhundert die Dienstwohnungen der „Leuchtfeuerwärter“ befanden. 1984 konnte der hiesige Heimatverein das Anwesen erwerben, um hier sein umfangreiches Bild- und Dokumentenarchiv unterzubringen. Auf der anderen Seite des Hauses zelebriert der engagierte „Türmer“ Gottfried Sauer nach Voranmeldung die spannende und höchst unterhaltende Zeremonie des Teetrinkens in Ostfriesland.
Vor dem Verkauf des Grundstückes durch die Kirchengemeinde Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich hier das Pastorat. Westlich des Alten Turmes war die kleine Inselkirche, die um 1904 leider abgerissen wurde. Das Pfarrhaus wurde 1703 mit 2.000 vom Fürstenhaus bereitgestellten Steinen erneuert. Im Vorderhaus waren drei Kammern und im Hinterhaus zwei Viehställe und eine Milchkammer.
In der Chronik der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Borkum schildert der Verfasser Woldemar Beeneken anschaulich die wechselvolle Geschichte der insularen Gemeinde. So schreibt er, dass 1701 der gebürtige Hesse Johannes Schmidt als Geistlicher zur Insel kam. Bei seiner Amtseinführung am 2. November 1701 verließen die männlichen Kirchgänger demonstrativ das Gotteshaus. Ihre Begründung: …daß derselbe, die hochdeutsche Sprache redend, ganz und gar nicht dienen noch nutzen kann, indem wir jederzeit zur niederländischen Sprache gewohnet, also daß niemand, weder jung noch alt, ihn verstehen und begreifen kann.“ Kurz vor Weihnachten verließ Johannes Schmidt die Insel wieder.
„Das Niederländische war die offizielle Kirchensprache der Reformierten“, sagt Klaas-Dieter Voß von der Johannes-a-Lasco-Bibliothek in Emden. „Und weil die Schulen unter Aufsicht der Kirchen standen, wurde auch dort das Niederländische eingeführt.“ Von 1650 bis 1850 nahm die niederländische Sprache eine wichtige Rolle im Südwesten Ostfrieslands ein.
„Im Jahre 1595 setzten die Emder Bürger den von dem Grafen Edzard II installierten Rat ab und nahmen die gräfliche Burg ein. Edzard II wurde gezwungen, seine Residenz nach Aurich zu verlegen, und durch den Vertrag von Delfzijl vom 15. Juli 1595 musste er sich verpflichten, auf den Großteil seiner Rechte in Emden zu verzichten. Die vereinigten Niederlande unterstützten dieses Unternehmen, indem sie eine Schutztruppe nach Emden schickten, die erst 1744 wieder abzog. Emden erwarb als Satellit der Niederlande fast die Rechtsstellung einer freien Reichsstadt und schloss sich mit dem reformierten Südwesten immer enger an die kalvinistische Kirche der Niederlande an, so dass im Laufe des 17. Jahrhunderts Niederländisch zur Standardsprache des gehobenen Bürgertums wurde. Im Gegensatz zum reformierten Emden bildete Aurich den Mittelpunkt des lutherischen Ostens, dessen Schul- und Kirchensprache Hochdeutsch war.“erklärt Dr. Marron C. Fort, langjähriger Akademischer Oberrat und Leiter der Arbeitsstelle Niederdeutsch und Ostfriesisch in der Universitätsbibliothek Oldenburg. Er wuchs in New Hampshire (USA) auf und studierte Germanistik, Anglistik, Niederlandistik und Skandinavistik sowie Mathematik in Princeton, Philadelphia und Gent. Nach einem Studienaufenthalt in Deutschland promovierte er mit einer Arbeit über die niederdeutsche Mundart Vechtas. Von 1969 bis 1985 war Fort Professor für Germanistik an der Staatsuniversität von New Hampshire (USA). Zwei Gastprofessuren führten ihn 1976/77 und 1982/83 an die Universität Oldenburg, wo er seit 1986 endgültig blieb und sich insbesondere dem Saterfriesischen und den niederdeutschen Dialekten zwischen Lauwersmeer und Weser widmete. Er lebt heute als Pensionär im ostfriesischen Leer.
„ Zwischen 1650 und 1850 war Ostfriesland ein Dreisprachenland. Im reformierten Westen lehrte und predigte man auf niederländisch, im lutherischen Osten war die Sprache der Schule und der Kanzel Hochdeutsch. In beiden Landesteilen aber war die ‚lingua franca‘ (die Verkehrssprache eines eines größeren mehrsprachigen Raums) Niederdeutsch“, erklärt Dr. Fort in seiner Dokumentation „Die Tradition des Niederländischen in Ostfriesland“ und führt weiter aus:
„Infolge der Freiheitskämpfe in den Niederlanden strömten zwischen 1570 und 1600 mehr als 6.000 reformierte niederländische Flüchtlinge nach Emden. Obwohl am Anfang des 17. Jahrhunderts Niederdeutsch noch Schul- und Kirchensprache war und kalvinistische Theologen wie Menso Alting und Daniel Bernhard Elshemius in niederdeutscher Sprache ihre Predigten hielten, wurde das Niederländische neben Nieder- und Hochdeutsch zur dritten Handelssprache. Auch in den Kirchen und Schulen wurde auf niederländisch gepredigt und unterrichtet.
Seit dem frühen 16. Jahrhundert gibt es in Ostfriesland öffentliche Schulen, und bereits 1545 führte Gräfin Anna die Schulpflicht ein. Allerdings wurden Reformierte und Lutheraner getrennt unterrichtet. Diese Glaubensspaltung wurde 1595 durch den Vertrag von Greetsiel festgeschrieben, nach dem in Emden ohnehin nur noch die reformierte Religion gelehrt werden durfte.
Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war die Sprache der reformierten und lutherischen Schulen jedoch Niederdeutsch. Die Emder Schulordnungen aus den Jahren 1577 und 1596 sind niederdeutsch verfasst, ebenso die als Schulbuch in ganz Ostfriesland verwendete Arithmetica des Rechenmeisters Hermann Fresenborch“
„Zwischen ca. 1150 und 1200 entwickelte sich aus dem Altsächsischen das Mittelniederdeutsche; überlieferte Textzeugnisse ermöglichen für diese Sprachstufe die Festlegung auf den Zeitraum zwischen ca. 1200 und 1650. Die Blütezeit des Mittelniederdeutschen lässt sich innerhalb dieser Zeitspanne von ca. 1350 bis 1550 eingrenzen. Diese Zeit war wesentlich bestimmt von der wirtschaftlichen und dadurch auch politischen Macht der Hanse. Mittelniederdeutsch war die Sprache der Hansekaufleute, die sich auf Mittelniederdeutsch mündlich wie schriftlich in den Bereichen Handel, Recht und Diplomatie verständigten“ erklärt die Ostfriesische Landschaft in Aurich und sagt weiter:
„Das Hochdeutsche verdrängte ab ca. 1650 das Mittelniederdeutsche als „Hochsprache“ (= „Standardsprache“), indem es zunächst als Schrift-, dann als Umgangssprache immer mehr genutzt wurde und sich somit verbreitete. Der Norden Deutschlands wurde so zweisprachig. Dennoch entwickelte sich auch das Niederdeutsche – in regional verschiedenen Ausprägungen – weiter, sodass sich für den ostfriesischen Sprachraum das heute gesprochene ostfriesische Plattdeutsch entwickelte“.
Nach dem Übergang Frieslands an das Königreich Hannover im Jahre 1815 bemühte sich die Regierung hartnäckig und mit wachsendem Erfolg darum, das Niederländische als Schul- und Kirchensprache durch das Hochdeutsche zu ersetzen. Das Hochdeutsche wurde aber im Laufe der Zeit immer wichtiger. 1754 beschloss der Emder Kirchenrat, es zumindest als Fremdsprache einzuführen. Mitte des 19. Jahrhunderts mussten die Emder Schulen das Niederländische als Unterrichtssprache dann ganz aufgeben – auf Befehl der hannoverschen Regierung. Auch in der Kirche verlor die Nachbarsprache an Bedeutung. Die Emder retteten die alte Tradition noch bis ins 20. Jahrhundert. Als Ostfriesland 1744 an Preußen fiel, verbot die preußische Regierung 1748 den Ostfriesen das Studium an ausländischen Universitäten und wies Studierwillige der damaligen Universität Lingen zu. Die neuen Herrscher dachten vor allem daran, die Beziehungen des reformierten Südwestens zu der Universität Groningen zu beeinträchtigen.
Im Staatsarchiv zu Aurich fand die Archivverwaltung des Borkumer Heimatvereins mehrere Dokumente, die sich mit den Predigten in der Borkumer Kirche beschäftigten. Die Eingaben aus den Jahren 1861 und 1865 wurden von dem Insulaner und Mitglied des Heimatvereins Karl-Georg Eilers in das heutige Schriftdeutsch übertragen.
Vor seiner Amtseinführung am 4. Juli 1861 bittet Pastor Pannenborg das Königliche Consistorium zu Aurich (oberste Verwaltungsbehörde) um Erlaubnis ebenso viele Predigten in holländisch und hochdeutscher Sprache halten zu dürfen. Er unterstützt damit eine „untertänigste Bitte der Borkumer Gemeindeglieder“, unterzeichnet von dem Kirchenvorsteher Jan Wybrands und den Kirchenmitgliedern Jan Kieviet, Evert J. Wybrands, B.J. Teerling, H.F. Dykmann und Gerhards. Sie führen aus, dass sich unter den Einwohnern nur eine geringe Anzahl findet, die deutsche Predigten verstehen. Zwar würde der Schulunterricht in deutscher Sprache abgehalten und „die Jugend in das Verständnis hineingeführt“, aber in früheren Jahren sei dies nicht geschehen. Die Bevölkerung habe immer sehr engen Kontakt mit dem Königreich der Niederlande gehabt, die seefahrende Mannschaft führe ausschließlich auf holländischen Schiffen und Dienstboten, die anderweitig ein Auskommen suchten, finden dies in Holland. „Man wundert sich daher nicht, dass schon Badegäste, die unsere Insel besuchen, manchmal nicht imstande sind, ihre Wünsche verständlich zu machen. Damit es nun auch denen, die auf unserer Insel unerfahren und unbekannt mit dem Deutschen sind, hinfort möglich bleibt, sich der Verkündigung des theuren Evangeliums zu erbauen, zu erlauben, dass auch hinfort holländische Predigten abgehalten werden dürfen.“
Das Konsistorium antwortet umgehend, dass man festgestellt habe, dass die meisten Einwohner auf Borkum die Predigten in deutscher Sprache sehr wohl verstehen könnten, „einigen derselben die Fähigkeit aber abzugehen scheint“. In Anbetracht der besonderen Situation wird gestattet für die Dauer eines Jahres alle vier Wochen eine Predigt in holländischer Sprache zu halten. Der Nachfolger von Pastor Pannenborg, Otto G. Houtrouw (1863 – 1866) schreibt allerdings vier Jahre später, am 18. April 1865, dass er sich bei allen religiösen Handlungen in der reformierten Kirche der deutschen Sprache bediene und das würde von den Insulanern „willig und freudig ertragen“. Aber es sei ein langwieriger Prozess, „denn mit Ausnahme der jetzigen Jugend haben alle Einwohner ihre Bibel, ihr Gesangbuch und ihren Katechismus nur in holländischer Sprache gelernt und so erklingt ihnen das Deutsche als eine fremde Sprache“. Als Seelsorge für Arme und Alte und Unkundige möge doch eine Ausnahme erteilt werden, um in den Nebengottesdiensten holländisch zu predigen.
Petrus Georg Bartels (1832 – 1907) war der Sohn eines Schneidermeisters. Nach dem Abitur studierte er Theologie an der Universität Göttingen, war Pastor in Mitling-Mark, Pilsum und Emden. 1866 wurde er von König Georg V. zum Generalsuperintendent ernannt. Er komme dem Wunsch des Pastoren Houtrouw zur Begutachtung der Eingabe gerne nach, „da mir die Insulaner seit 20 Jahren näher und etwas zu 2/3 persönlich bekannt sind“.
Die Sachlage sei richtig geschildert, denn die Beziehungen der Inselbevölkerung zu Holland sind so vielfach und so intensiv wie in keiner Gemeinde der Provinz. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts habe der preußische Einfluss dem Hochdeutschen mehr Raum geschaffen, auch in abgelegenen streng reformierten Gemeinden wie Pilsum, wo deutsche Schulbücher im Gebrauch und deutsche Lieder bekannt seien. Aus den Borkumer Visitationen habe sich aber ergeben, dass in der Schule kein Hochdeutsch getrieben werden „wegen Widerwillens der Insulaner gegen dasselbe“. Seit 1816 bestehen Gesetze: für Borkum so gut wie für die übrigen Gemeinden. Er – Bartels – wisse, dass man in den 1840er Jahren auf der Insel schon ziemlich allgemein deutsch lesen konnte, aber das Verständnis hatte nicht viel mehr zu bedeuten als etwa im Groningerland. Hier sei Geduld und „Nachhülfe“ für viele am Platz und so wie Pastor Houtouw sich die Sache gedacht habe mit holländischen Nachmittagsgottesdiensten zur Winterzeit sei „wirklich das Ding am rechten Ende angefasst zu sein“.
Das königliche Konsistorium genehmigte die Empfehlung für die nächsten zwei Jahre mit der ausdrücklichen Bemerkung, „dass diese Frist zum Gebrauch der holländischen Sprache als letzte anzusehen ist!“.
Quellen:
Niedersächsisches Landesarchiv – Aurich; Rep. 138II, Nr. 17
Dr. Marron C. Fort; Die Tradition des Niederländischen in Ostfrieslands
Woldemar Beeneken; Unse Karke
Johannes-a-Lasco-Bilbliothek, Emden
Ostfriesische Landschaft Aurich, Bibliothek